"Entdeckungen für den
Segelflug
-
Wissenschaftliche Abenteuer in der Atmosphäre"
(Foto: www.planet-elmi.de/fotos.htm
)
Joachim Küttner
stellt im Rahmen seines Vortrages zum 61.
Deutschen Segelfliegertag am 2.11.02 in Berlin eine neue wissenschaftliche
Hypothese
im Bereich der Leewellen-Forschung dar:
An einem solchen Augenblick in Joachim Küttners Leben, der sich gar nicht lange bevor er nach Berlin kam abgespielt hat, ließ er uns dort teilhaben:
Das Problem, um das es dabei geht, ist das der
Rotorströmung.
Aber welches Problem sollte es da geben? Kennen wir nicht alle die
Schemadarstellungen der Leewellenströmung mit den geschlossen kreisförmigen
Strömungslinien - eben den Rotoren - unter den Wellenbergen? Alles logisch und
eingängig? Der Fluch der allein durch Vereinfachung Schlüssigkeit erreichenden
Darstellung trifft uns hier.
Zum Teil erheblich von diesem Schema abweichend
treten uns Rotoren in der Natur in vielerlei Form
entgegen:
Noch am deutlichsten schemagerecht ausgeprägt als offensichtlich tatsächlich um ihre Längsachse rotierende horizontale
Wolkenwalzen, die sich in unterschiedlichen Höhen ausbilden können (womöglich
auch gleichzeitig in mehreren Niveaus - vgl. Flug von Herbert
Horbrügger) oder weniger augenfällig als abgegrenztes Gebiet mit
Cu-Bewölkung im Lee eines Hindernisses, die manchmal nur schwierig von einer
durch thermische Konvektion bedingten abgegrenzt werden kann.
Wir sehen Rotoren angezeigt als in vertikaler
Bewegung befindliche Cu-Fetzen oder als mächtige senkrechte Wolkenwand im Lee.
Das Phänomen kann schwach und von geringer vertikaler Ausdehnung
sein oder in beiderlei Beziehung stark ausgeprägt auftreten.
Die
lehrbuchmäßige Walzenströmung kann vergesellschaftet sein mit Wirbeln, die an senkrechten Achsen auftreten oder einer gänzlich chaotischen Bewegung Raum
geben.
Je nach Höhe und Ausprägung der Rotoren beeinflussen diese den Bodenwind
entweder gar nicht, versehen diesen mit
Richtungsabweichungen oder kehren ihn sogar um.
Die hochreichendsten und gefährlichsten Rotoren sind verbunden mit extremen
Starkwindereignissen im Bereich der Leehanggebiete mit oft katastrophalen Folgen für die Landschaften
dort.
Aus dieser Mannigfaltigkeit der beobachteten Erscheinungsformen kristallisierte die menschliche Betrachtung zwei verschiedene Möglichkeiten der Rotorentstehung heraus:
Joachim Küttner stellt beide Rotor- (bzw.
Wellen-) Typen dar (Foto: K.-H. Dannhauer)
Die eine Vorstellung zur Rotorentstehung entspricht dem eingangs dargestellten Schema und sieht die Ausbildung der Rotoren als direkte Folge einer ausgebildeten Leewellenströmung an (etwa indem sie deren "Lager" bilden).
Joachim Küttner stellt den Fall der
mehrfach
nachschwingenden Wellenströmung mit Rotoren
jeweils unter den Wellenköpfen dar
(Foto: K.-H. Dannhauer)
Die andere nimmt an, daß die Strömung am Leehang in einer durch
Trägheitskräfte bestimmten, womöglich sich selbst verstärkenden Weise eine zunehmende
Beschleunigung erfährt bis schließlich aus einem solchen überkritischen
Zustand heraus die Umwandlung der geballten kinetischen Energie der Strömung in
die Form der Turbulenzenergie stattfindet. Diese sprunghafte Änderung des
Strömungsverhaltens stellt sich als fast explosionsartiges Aufdicken der Strömung mit chaotischen
Verwirbelungen in diesem Bereich dar.
Die Vorstellung beruht auf einer Übertragung von Erkenntnissen aus der
Flachwasser-Hydraulik - wo dieser Vorgang als "hydraulischer
Sprung" bezeichnet wird - auf den Bereich der Atmosphärenphysik.
Dies sind die oben bereits erwähnten sehr hochreichenden und äußerst
gefährlichen Rotorereignisse.
Joachim Küttner stellt den Analogie-Fall
zum
"hydraulischen Sprung" mit einer einzigen hochreichenden
Wellenschwingung und einem riesigen Rotor dar.
(Foto: K.-H. Dannhauer)
Ist es nun sinnvoll, zur Beantwortung der
Frage, welche Hypothese zur Rotorentstehung "wahr" ist, zu
rekapitulieren, welche Bedingungen für die Entstehung von Leewellen "Stand
der Wissenschaft" sind?
Die eben rhetorisch gestellte, grundsätzliche Frage einfach außer Acht lassend, wollen
wir diese Entstehungs-Bedingungen hier nur grob betrachten und feststellen:
ein etwa senkrecht zum Hindernis wehender, mit der Höhe richtungskonstant
zunehmender Wind in ausreichender Stärke und eine Inversion
knapp oberhalb des Hinderniskammes ist notwendig.
Ist es weiterhin sinnvoll, die Frage zu stellen, wie sich die Windstärke genau im Bereich innerhalb der Inversion mit der Höhe wohl entwickeln mag und welche Auswirkungen mit der Größe dieses vertikalen Windstärkegradienten dort auf die Ausgestaltung des Leewellensystems gegeben sein werden?
Joachim Küttner stellte diese Frage im Kreise seiner Mitarbeiter.
Eine Frage mit weitreichender Bedeutung, wie sich herausstellte -
Intuition eines Menschen, dessen Gedanken jahrzehntelang immer wieder die Fakten
und Zusammenhänge dieses Problemfeldes umgewälzt und aufbereitet haben? Oder
"Zufall", wie er selber sagt?
Es gab kontroverse Meinungen bezüglich der Antwort auf diese Frage: natürlich nähme die Windstärke auch dort mit der Höhe zu und die Inversion sei also ein Bereich intensiver Windgeschwindigkeitsscherung, war ein Standpunkt (Fall 1). Ein anderer Standpunkt - vertreten von einem erfahrenen Segelflieger im Team - war, daß es durchaus auch Fälle gäbe, in denen der Gradient nur sehr klein sei, die Windgeschwindigkeitsscherung im Bereich der Inversion demnach nur gering ausgeprägt wäre (Fall 2).
Die Idee, beide Fälle (1 und 2) jeweils als Startbedingungen für zwei unterschiedliche Läufe einer bereits in Nutzung befindlichen EDV-Modellrechnung anzunehmen, lag offenbar nahe - die gewonnen Ergebnisse führten zu einigem Erstaunen:
Fall
1
Fall 2
(Beide Abbildungen sind jeweils Stadien von Computersimulationen,
entnommen dem Vortrag von Joachim Küttner)
(Fotos: K.-H. Dannhauer)
Es hat demnach also tatsächlich den Anschein, als ob die Größe der vertikalen Windgeschwindigkeitsscherung innerhalb der Inversion der steuernde Faktor für die jeweils zur Ausbildung kommende Spielart dieser so unterschiedlichen Wellen- bzw. Rotorsysteme zu sein scheint.
Dies ist ein grundlegend neu
formulierter Ansatz, der allerdings - wie eingangs bereits hervorgehoben - noch
den Status einer wissenschaftlichen Hypothese innehat.
Er steht so in Konkurrenz mit anderen Denkmodellen, die sich auf
phänomenologisch verwandte Situationen beziehen - wie dem schon im Jahre 1949
von dem tschechischen Wissenschaftler Jiri Förchtgott veröffentlichten:
Er unterscheidet damals schon sehr weitgehend unterschiedliche
Strömungssituationen, die sich - vornehmlich bestimmt durch das vertikale
Windprofil - im Lee eines Hindernisses ausbilden können. So auch das
nachfolgend wiedergegebene Schema einer Rotorströmung. Der mit einer einzelnen
Leewellenschwingung verbundene Rotor wird nach Förchtgott verursacht
durch ein Windgeschwindigkeitsmaximum in Kammhöhe.
Quelle: Förchtgott,
J., 1949
In einer ganz aktuellen Veröffentlichung aus dem Jahre 2002 sieht der bekannte Meteorologe Tom Bradbury als auslösenden Faktor für die Entstehung einer Typ 2 - Situation eine luvseits des Hindernisses erfolgende Blockade der bodennahen Strömung, etwa durch dort lagernde Kaltluft. Diese Konstellation soll zu der in dem nachfolgenden anschaulichen Bild dargestellten Strömungssituation führen: Die anströmende Luftmasse muß nicht erst am Luvhang aufsteigen, sondern kommt mit hoher kinetischer Energie im Gipfelniveau an und stürzt dann, sich weiter beschleunigend, den Leehang hinab.
Quelle:
http://www.glidingmagazine.com/ListFeatureArticleDtl.asp?id=238
Ein spannender Wettstreit der Denkansätze findet
hier statt - eben das "Abenteuer Wissenschaft"...
Die im Rahmen der Aerokurier-Berichterstattung über den Vortrag von Joachim
Küttner (1/2003, S. 105) getroffene Aussage, daß die Zerstörung von
Larry Edgars Flugzeug in einer solchen, im Rahmen des "Sierra
Wave Project" beflogenen Typ 2 - Situation, indirekt dadurch erfolgte
"nur weil in der in geringerer Höhe eingelagerten Inversion die Zunahme
der Windgeschwindigkeit mit der Höhe stagnierte" erweckt den Eindruck,
daß die kausalen Zusammenhänge abschließend geklärt seien und ist insoweit
sicher voreilig.
Aber ist es nicht - gerade im Lichte dieser noch offenen Frage - ebenso erstaunlich wie tröstlich und faszinierend, daß solch grundlegende Entdeckungen in der modernen Naturwissenschaft noch immer in diesem Ausmaß - nach meiner Überzeugung entscheidend - von der menschlichen Intuition abhängen?
Wir finden hier also ein weiteres Paradebeispiel dafür, um wie viel wichtiger es ist, die richtigen Fragen zu stellen, als etwa stark abstrahierte Lehrbuchweisheit einfach zu akzeptieren. Eine Erkenntnis, die gerade uns Segelflieger, die wir in dem direktesten Kontakt mit dem Phänomen "Leewelle" stehen können, ermutigen sollte, genau zu beobachten und zu fragen...
Auf wissenschaftlichem Niveau aber wird dieser von Joachim Küttner und Mitarbeitern neu postulierte Erklärungsansatz durch ein geplantes "Rotor-Projekt" in den Jahren 2003-2005 untersucht werden und zwar dort, wo schon fünfzig Jahre vorher grundlegendes Wissen über Leewellen gesammelt wurde: im Ost-Lee der Sierra-Nevada.
Eine "erweiterte Kurzfassung" eines zusammenfassenden Tagungsbeitrages von Joachim Küttner und Rolf F. Hertenstein zur Historie und zum Umfang der bezüglich des Rotorphänomens gewonnenen Erkenntnisse findet sich unter http://ams.confex.com/ams/10Mountain/10MntMet/abstracts/40363.htm . Auf die oben geschilderten neu erkannten Zusammenhänge wird dort leider noch kein Bezug genommen.
Aber ein von den Autoren eingängig
und nachhaltig beschriebenes Bild der Gefährlichkeit der Typ-2-Rotorströmung aus diesem durchaus nicht trockenen wissenschaftlichen Aufsatz möchte ich hier
abschließend wiedergeben:
"Dieser seltene Rotor-Typ sollte [von
Flugzeugen] gemieden werden, etwa in der Art und Weise, wie Boote die
Niagara-Fälle meiden."
Jörg Dummann, 29. Dez. 2002